Auf ein Stündchen


 

Eins meiner Lieblingstheater ist das Theater Willy Praml in Frankfurt in der Waldschmidtstraße. Und wie alle Theater musste auch dieses dank Corona vor langer Zeit seine Türen schließen. Mir kommt es vor wie eine Ewigkeit, und ich vermisse die Theater und offenen Museen tatsächlich mehr als Cafés oder Restaurants. Ein bisschen habe ich mir über den Winter mit Online-Vorstellungen geholfen. Das Thalia-Theater Hamburg, auch das Schauspielhaus Hamburg, das Nationaltheater Weimar und einige andere Bühnen haben versucht, die Lockdownzeit mit dem Streamen ihrer Aufführungen zu überbrücken. Mit einem Glas Wein in der Hand kam ich so vom Sofa aus ganz nah an manche Bühnen heran. Aber eben doch nicht nah genug. Denn was fehlte, war das Unmittelbare, die Geräusche im Zuschauerraum, das Raunen und Wispern, der Geruch nach Staub und Schweiß, der von der Bühne kommt, die Zugluft, wenn sich der Vorhang öffnet und  eben das Gefühl, Teil einer Inszenierung zu sein.

Ganz offensichtlich war auch das der Grund, warum Willy Praml es ablehnte, mit seiner Crew online zu gehen. 

Zitat: "Online sollen die Menschen hübsch weiter Unterwäsche, Hausgeräte, T-Shirts, Hundefutter und den ganzen Kram bestellen, auch Serien gucken, was weiß ich. Theater geht nicht online. Da braucht es Dreidimensionalität; Spieler und Zuschauer müssen in einem Raum atmen." (Quelle: Interview in FRIZZ 4/2020

Aber das Theater Willy Praml hat sich etwas anderes ausgedacht. Einen Spaziergang. Sie nennen es AUF EIN STÜNDCHEN und das Prinzip ist ganz einfach. Dem Ensemble fehlen die ZuschauerInnen. Den ZuschauerInnen fehlt das Ensemble. Also verabredet man sich. Zu einem Spaziergang auf ein Stündchen. Jeweils ein Ensemble-Mitglied geht mit einem Zuschauer/einer Zuschauerin eine Stunde spazieren. Brav mit Abstand und mit Maske, aber doch so nah, dass man sich im Gespräch näher kommen kann. Sich austauschen kann. Über Gott und die Welt und vor allem über das Theater. 

Nachdem ich meinen ersten Spaziergang absagen musste - die Corona-Impfung hatte mich niedergestreckt - konnte ich gestern endlich teilnehmen. Und bin vollkommen angefüllt und begeistert, glücklich und voller neuer Eindrücke wieder nach Hause gefahren.

Mein Spazierpartner war der syrische Schauspieler Muawia Harb. Wir kamen so schnell ins Gespräch, dass unsere Stunde wie im Flug verstrich. Von den Naxoshallen liefen wir am Zoo vorbei zum Mainufer, dort eine Weile am Main entlang, übrigens exakt zwischen zwei Regenpausen bei strahlendem Sonnenschein, bis zur Europäischen Zentralbank und von dort wieder zurück zum Theater. Und haben geredet und geredet. Muawia hatte seine Schauspielausbildung in Damaskus beendet, bevor er 2015 als Flüchtling nach Deutschland kam. Dort hörte er, dass Willy Praml für eine Inszenierung mit Flüchtlingen arbeiten wollte und bewarb sich. Inzwischen ist er fester Bestandteil des Ensembles, ich selbst habe Muawia u.a. schon mehrfach als Sultan Saladin in der Inszenierung "Nathan der Weise" gesehen. 

 
Wir haben über das Theater geredet, über Nathan, die Ringparabel, die Religionen, aber auch übers Büchermachen, meine Kinderbücher, über die Arbeit von Verlagen, über Virgina Woolf, Kafka und das Drama Antigone, über Amerika, über den Wunsch Muawias, einen Verein zu gründen, in dem Deutsche und Syrer zusammen Kunst machen, wir haben über die Proben geredet und wie sehr dem Ensemble der Kontakt zum Publikum fehlt. 

Kurz: Selten hat mich ein kurzer Spaziergang so erfüllt. Und Willy Praml hatte Recht. Hierzu brauchte es weder Zoom noch einen Streamingdienst, sondern nur wetterfeste Kleidung und ein Stündchen Zeit. 

Danke an Muawia Harb für seine Offenheit und seine Einblicke in die Theaterwelt.

Kommentare

  1. Was für ein fantastisches Angebot. Da würde ich glatt auch ein Stündchen, lieber gleich mehrere buchen.

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