Stups und Schnupper - die etwas andere Hannah Arendt


 Franz Kafka - Milena Jesenská, Otto von Bismarck - Johanna von Bismarck, Paula Modersohn-Becker - Otto Modersohn, Rosa Luxemburg - Sophie Liebknecht, Emerenz Meier - Auguste Unertl, John Keats - Fanny Brawn, Oskar Wilde - Alfred Douglas, Wilhelm Busch - Marie Anderson, Hannah Arendt - Heinrich Blücher

Was haben all diese Menschen gemeinsam? Sie haben einander Briefe geschrieben. Briefe, in die ich am liebsten sofort wieder eintauchen würde, einige von ihnen besitze ich bereits, andere will ich jetzt unbedingt auch noch haben.

Schuld daran ist ein Abend im Theater Willy Praml in den Naxos Hallen. Genauer gesagt, ein Naxos Hallenkonzert, diesmal mit dem Liedermacher Johannes Öllinger.

 


 

Er benötigte nur seine Gitarre und eben diese Briefe, um mich komplett in seinen Bann zu ziehen. Brieflieder heißt sein Programm, sämtliche Texte, die Noten und die Quellenangaben stehen unter www.brieflieder.de als PDF-Download zur Verfügung. 

Wer hätte gedacht, dass der "eiserne Kanzler" so innige Liebesbriefe schreiben konnte oder dass Hannah Arendt und Heinrich Blücher sich einander als Stups und Schnupperchen betitelten? Gleich schmunzelt man über die Briefe von Francis Scott-Fitzgerald an seine pubertierende Tochter ("What have you done with your hair?")

Das Schmunzeln verfliegt aber schnell wieder, wenn man hört, wie Rosa Luxemburg von der Zukunft träumt, wie sehr Sophie Scholl an das Gute glaubt und Dietrich Bonhoeffer sich in der Haft nach seiner Verlobten sehnt.

In einem Punkt haben mich all die Briefauszüge nachdenklich gemacht. Welche Einblicke gewähren sie uns? Wieviel nehmen wir aus ihnen für uns selbst mit, wieviel lernen wir daraus über die wahren Gedanken und Gefühle dieser Menschen. Sie sind wie ein Fenster in die Vergangenheit. Aber dank unserer "Windows" wird es solche alten Fenster bald nicht mehr geben. Alice und ich, wir schreiben uns beinahe täglich. Kein Mensch wird diese Briefe je lesen, weil sie als Mails nach einer Weile gelöscht werden. Geschäftsbriefe, Bettelbriefe, Liebesbriefe, Drohbriefe, Aufmunterungsbriefe - all das wird es bald nicht mehr geben. Niemand wird mehr auf dem Dachboden die Briefe und Tagebücher seiner Großeltern finden. Für mich selbst waren das Tagebuch über ihre ganzes Leben meiner Goßmutter väterlicherseits und die Briefe meines Großvaters mütterlicherseits, die er aus den langen Kriegsjahren nach Hause geschrieben hat, der größte Schatz, den meine Familie mir hinterlassen konnte. All das stirbt aus. Briefe und Tagebücher als eine der wichtigsten Geschichtsquellen versickern im Online-Nirwana. Das stimmt mich total traurig. Umso mehr möchte ich wenigstens ab und zu mal wieder eine Postkarte schreiben oder noch besser einen richtigen Brief. 

Und all die Briefe lesen, die Johannes Öllinger mir mit seiner Gitarre und seinen Erzählungen dazu so nahe gebracht hat. 

Wolfgang Koeppen - Marion Koeppen, Paul Celan - Ingeborg Bachmann, Albert Einstein - Hedwig und Max Born, Kurt Tucholsky - Hedwig Müller, Sophie Scholl - Fritz Hartnagel, Francis Scott-Fitzgerald - Frances Scott-Fitzgerald, Simone de Beauvoir - Nelson Algren, Dietrich Bonhoeffer - Marie von Wedemeyer

Kommentare