Geschichten erzählen einmal anders
Meine letzten Wochen waren vollgepackt mit Schreibworkshops, Lesungen und auch einigen Überstunden im Buchladen. Deshalb kann ich euch erst heute von diesem Schreibworkshop erzählen, der mich so sehr berührt hat.
Eingeladen hatte mich - via MuK-Hessen - die Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule in Ober-Ramstadt zu zwei Schreibworkshops der ganz besonderen Art. Ich durfte mit zwei Gruppen der Intensivklassen schreiben und sah mich plötzlich vor eine Herausforderung gestellt, die ich so noch nicht kannte. Die Gruppen bestanden ausnahmslos aus Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist und die auch, bis auf wenige Ausnahmen, noch gar kein Deutsch verstanden.
Jetzt ist mein Englisch ganz und gar erbärmlich, dafür kann ich mit Latein- und Altgriechischkenntnissen prahlen, was mir aber für diesen Workshop nicht besonders nützlich war. Zum Glück für mich wurden die Kinder von Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen begleitet, die fließend Englisch sprachen. Außerdem stand mir eine ukrainische Lehrerin zur Seite, die zumindest den ukrainischen Kindern auch 1:1 übersetzen konnte, was ich von ihnen wollte.
Wer sich jetzt fragt, wie um Himmels Willen man mit Kindern eine Schreibwerkstatt abhalten soll, die weder die gleiche Sprache sprechen, noch überhaupt unsere Schrift schon richtig gut beherrschen, der steht vor den gleichen Fragezeichen, die ich im Kopf hatte. Ich habe das ganze zu Hause am Küchentisch diskutiert, worauf einer meiner Söhne meinte: Schreibt/malt doch einfach Comics. Und damit war die Idee für diesen besonderen Workshop geboren. Jetzt hoffte ich nur noch auf gutes Wetter, denn statt im Klassenzimmer wollte ich gerne draußen schreiben, ganz nach meinem Motto "Raus und Schreiben".
Mich empfing eine Schule hoch auf einem Berg mitten in sonnigstem goldenen Oktoberwetter. Die Voraussetzungen waren optimal. Ich hatte eine große Kiste Straßenkreide dabei und startete den Workshop damit, dass wir erst einmal alle unsere Namen auf den Schulhof malten. Schon das stieß auf große Begeisterung und noch nie habe ich so schnell die Namen meiner Kursteilnehmer und - teilnehmerinnen gelernt.
Anschließend nahm ich ein Stück Kreide und versuchte, den Kindern "meine Geschichte" zu erzählen. Ich malte sie auf. Ich malte ein Haus und einen Garten, erzählte ihnen von meinen fünf Kindern, meinen drei Katzen, ich malte Bücher und Stifte und versuchte, ihnen meinen Beruf zu erklären. Anschließend bat ich die Kinder, mir ihre Geschichten aufzumalen. Es war so berührend, ihnen dabei zuzuschauen, wie sie von sich erzählten, wie sie sich gegenseitig auch halfen, nach Ideen suchten oder nach einer Möglichkeit, das, was sie sagen wollten, in möglichst einfachen Zeichnungen auszudrücken. Wir gingen gemeinsam zurück an den Anfang des schriftlichen Erzählens, unsere Bilder auf dem Schulhof ähnelten den Höhlenmalereien der Steinzeit.
Und ich lernte so viel mehr mit und von diesen Kindern als sonst oft in Schreibkursen. Ihre Bilder erzählten von ihrem Zuhause, von den Menschen, mit denen sie hier leben, auch von denen, die sie zurücklassen mussten. Ich erfuhr von wöchentlichen Telefonaten mit der Oma, dem Papa, den Freunden und Verwandten. Und davon, wie es ist, wenn der Papa, der Opa, der Bruder plötzlich nicht mehr anrufen. Sie malten die Flaggen aus ihrer Heimat und manchmal malten sie auch ein Kreuz daneben. Sie erzählten von ihren Haustieren, einige unter Tränen, weil auch die Haustiere nicht alle in Deutschland sind. Ein Junge musste zwei Schildkröten, ein Mädchen eine Katze in der Ukrainie lassen. Sie erzählten von ihrer Reise nach Deutschland in Zug, Auto, Schiff und zu Fuß. Sie malten mir auf, was sie gerne machen: Schwimmen, Radfahren, Zocken, Malen, Baskteball spielen. Sie malten, wen sie vermissen, wen sie lieben, was sie sich wünschen.
Vlad, Mikail, Muhammad, Yasemin, Valerie, Bilal, Alina, Rokia,Vera, Nikit und die vielen anderen hatten so viel zu erzählen. Aus Syrien, aus Ghana, aus der Ukraine, aus Weißrussland, aus Afghanistan.
Aufgefallen ist, dass die erste Gruppe, die Jüngeren, sich leichter taten mit dem Erzählen. Die zweite Gruppe bestand aus älteren Jugendlichen, sie waren zurückhaltender, misstrauischer, vorsichtiger und auch teilweise sichtbar traumatisierter. Im Gespräch mit den Lehrerinnen erfuhr ich dann, dass es manchmal besser ist, sie einfach in Ruhe zu lassen, dass sie aber gerne spielen, Karten, Schach, Würfeln. Dass sie erschöpft sind von allem, das sie erlebt, das sie hinter sich gelassen haben. Dass sie erschöpft sind von allem, das täglich auf sie einstürmt. Fremde Menschen, fremde Gewohnheiten, fremde Wohnungen, fremde Sprachen, fremde Buchstaben. Wir haben die zweite Gruppe dann weitgehend das machen lassen, wozu sie Lust hatten. Einige haben sich für meine Magic Cubes begeistert, haben damit gewürfelt und in ihrer Muttersprache Geschichten erfunden. Ich habe mir auch die muttersprachlichen Geschichten vorlesen lassen und war berührt von der Schönheit der Sprachen. Mit Händen und Füßen haben wir uns dann übersetzt, was die Geschichten erzählten.
Schöner, trauriger und berührender können Schreibworkshops kaum sein und ich bin unendlich dankbar, dass ich ein Teil davon sein durfte.
wie berührend ist dieser Post, wieviel geben uns Kinder darin, deine durch die Idee der Comics als Kreidezeichnung, die Kreativität der jüngeren Kinder , die sich mitteilen können, aber auch Geduld und Zeit zum Heilen...Danke dafür
AntwortenLöschenLiebe Frauke, auch mir hat dieser eine Schreibworkshop, in dem wir außer unseren eigenen Namen eigentlich nichts im klassischen Sinne geschrieben haben, so viel gegeben, das ich noch ganz lange in mir tragen werde. Und ist Geschichten erzählen nicht letztendlich das? Einander zuhören, miteinander reden, den anderen wahrnehmen ... Liebe Grüße Jutta
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