Ich schenk dir eine Geschichte

 


Der Welttag des Buches (23. April) liegt schon mehr als einen Monat zurück und bisher bin ich einfach nicht dazu gekommen, Euch von meiner Aktion "Ich schenk dir eine Geschichte" zu erzählen. Seit März bin ich fast ununterbrochen unterwegs, entweder im Laden mit etlichen Überstunden oder zu Lesungen quer durch Deutschland oder auch zu Workshops an den verschiedensten Orten. Aber diese Aktion hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich den Bericht jetzt unbedingt noch nachholen will.

Einige von Euch kennen sicher die Aktion "Ich schenk dir eine Geschichte", die vom Börsenverein zusammen mit der Stiftung Lesen ins Leben gerufen wurde. Auch bei uns im Buchladen am Freiheitsplatz sind regelmäßig Schulklassen zu Gast, die sich erst ein wenig umschauen und  dann ihre Geschichten abholen.

In diesem Jahr hat es mich in den Fingern gejuckt, ich wollte unbedingt auch einmal eine Geschichte für unsere erwachsenen Kundinnen und Kunden schreiben.

Aus diesem Grund hatte ich mir etwas Besonderes ausgedacht und einige Wochen  lang unsere alle gebeten, mir für diese Geschichte Wörter zu überlassen, aus denen ich dann (ganz ohne chatgpt ;-)  ) eine Geschichte schreiben würde.

Zusammengekommen sind rund 70 sehr unterschiedliche Wörter (siehe Bild), jedes von ihnen habe ich verwendet. 

Viel Spaß beim Lesen!


 

Eine Geschichte vom Leben. Und vom Tod. Und eine Geschichte, in der eine Begonie eigentlich nichts zu suchen hatte

 

Es duftete nach Apfelkuchen, als der Alte die Augen wieder öffnete. Er war weggedöst, für einen kurzen Moment seiner Müdigkeit erlegen, das Buch war ihm aus der Hand geglitten.

Jetzt lag es offen neben ihm, die Katze, von ihm Schluri getauft, saß darauf und ließ den Raum mit ihrem tiefen Schnurren erbrummen.

Er wusste, dass der andere da war. Er war immer da, sobald er sich zwischen den Seiten eines Buches verlor. Mühsam richtete er sich auf, ließ den Blick durch den Raum schweifen, über seine geliebten Regale, die sich unter ihrer Last bogen, aber auch über den mannigfaltigen Krimskrams, den er zwischen den Büchern angehäuft hatte. Er sah den Smaragdring seiner Mutter, den alten ledernen Handball des schon längst verstorbenen Bruders, die kleine Traumtänzerin aus Bronze. Nichts davon würde er mitnehmen können. Neben den Regalen sah er den Rollator; was für ein Tölpel war er gewesen, zu glauben, dass er ihn niemals brauchen würde.

 

Dann sah er ihn. Verschwiegen wie immer stand er da, es war eine Verbundenheit zwischen ihnen, die ihn heute mit Glück und Dankbarkeit erfüllte. Das war nicht immer so gewesen.

Oft hatte das Wissen um die ständige Anwesenheit des anderen ihm den Frieden geraubt, hatte ihn bis in seine Träume verfolgt. Die Wahrheit war: Er fühlte sich klein in dessen Gegenwart. Unbedeutend wie ein Regenwurm. So wie damals, als er im Frühlingsgras lag, um die Gelbbauchunke zu betrachten und plötzlich das leise Lachen seines Vaters über sich hörte. Sein kindliches Gefühl von absoluter Freiheit hatte sich in diesem Moment aufgelöst wie Badeperlen im Wasser, war verglüht wie eine Sternschnuppe.

Und so erging es ihm auch mit diesem anderen. Jedes Mal, wenn er ein Buch aufgeschlagen, sich in die schöne neue Welt einer Geschichte vertieft hatte, war er plötzlich aufgetaucht. Anfangs war es ihm gar nicht aufgefallen. Anfangs hielt er es für puren Zufall.

Erst viel später begriff er, wie lange er ihn tatsächlich schon kannte. Klar wurde ihm das in der städtischen Bibliothek, in die er sich wegen des Platzregens geflüchtet hatte. Wie alt mochte er selbst damals gewesen sein? Dreißig? Vierzig vielleicht. Er hatte seinen kunterbunten Regenschirm in die Ecke gestellt, nach Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ gegriffen und es sich in einem der Sessel gemütlich gemacht. Ein kurzer Anflug von Chanel Nr. 5 hatte ihn aufblicken lassen. Betörend lange Beine auf waghalsig hohen lavendelfarbenen Schuhen lenkten ihn kurz ab, aber dann wollte er sich wieder in seine Lektüre vertiefen. Und da sah er ihn:

Er stand etwas abseits zwischen den Regalen, ganz ruhig stand er da, eher wie zufällig, ihre Blicke trafen sich kurz und das war der Moment, in dem es ihm zum ersten Mal aufgefallen war:  Die Augen. Diese dunkelblauen Augen in einem fast leichenblassen Gesicht. Ein Anblick von atemberaubender Schönheit, wenn er heute daran dachte. Aber damals begriff er nur: Diese Augen hatte er schon gesehen. Oft gesehen.

Hatte nicht der Junge, der plötzlich vor ihm stand, als er gerade um die hochmütige Prinzessin Tausendschön in dem Grimm’schen Märchen bangte, diese Augen? Oder der junge Mann, der ihm auf der Parkbank gegenübersaß, als er mit Joseph Roths Leierkastenspieler in „Die Rebellion“ litt? Und hatte er nicht geglaubt, Hans Schnier persönlich zu begegnen, gerade als er in der U-Bahn in Bölls „Ansichten eines Clowns vertieft gewesen war?

Eine Zeitlang hatte er versucht ihn loszuwerden. Hatte aus reiner Gemeinheit zu Büchern mit schlüpfrigen Geschichten gegriffen, deren Cover von Mädchen in viel zu knappen Bikinis geziert wurden, hatte garstige Krimis gelesen, in denen es vor Blutlachen nur so triefte, verursacht von einem Messer, einer Axt oder auch mal einer Kettensäge.

Aber egal, welches Buch er auch aufgeschlagen, auf welche Luftschaukel er sich auch gesetzt, welche Gedankenperlen er auch aneinandergereiht hatte, der andere war immer da. Stumm, voller Empathie, wartend. Stets in einer neuen Gestalt, aber die Augen waren immer die gleichen. Er begegnete ihm überall.

Egal, ob er literarische oder unterhaltende Bücher las. Egal, ob er sich mit dem Leben einer Wüstenspringmaus oder dem Humanismus befasste. Er begegnete ihm sogar dann, wenn er Bücher über das Einmachen von Erdbeeren oder die Verfeinerung einer Bratwurst-Mahlzeit mit Salbei las.

In einem letzten verzweifelten Akt griff er sogar zu völlig absurden Geschichten, in denen sich mitten im Weltall ein Wal und eine Begonie, nein eine Petunie, begegneten. Aber selbst Douglas Adams konnte den anderen nicht abhalten. Mit Arno Schmidts Wortsalat aus „Zettels Traum“ gab er endgültig auf.

Und in diesem Moment, in dem Moment, in dem er die Anwesenheit des anderen als gegeben, als unausweichlich hinnahm, veränderte sich etwas. Ein Gefühl tiefer Zufriedenheit und Harmonie durchdrang ihn. Er las noch viele Bücher. Durchlebte viele Geschichten. Den anderen immer an seiner Seite.

Und jetzt stand er wieder da, schweigend wie immer.  Die dunkelblauen Augen auf ihn gerichtet. Ein Blick voller Liebe. Wartend. Heute also. Der Alte wusste, diesmal würde er mit ihm gehen. Trotzdem griff er noch einmal zu dem Buch neben sich.

„Ich bin noch nicht fertig. Das Ende noch. Lass mich nur noch das Ende lesen.“ Seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

Der andere streckte die Hand aus. „Es gibt kein Ende. Du weißt es doch. Es gibt immer wieder neue Geschichten. Komm!“

Was für eine wunderbare warme Stimme er doch hat, dachte der Alte noch und griff nach der Hand, bevor ihn seine Lebensgeister verließen. 

 



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