Der Traum vom Leben auf dem Land

 

Fast jeden Sonntag fahre ich von der Stadt raus aufs Land, um meine Eltern zu besuchen. Sie leben seit über 80 Jahren in diesem Dorf, in das mein Vater mit seiner Familie als Vierjähriger gezogen ist. Heute war das Wetter zum ersten Mal seit Wochen so schön, kalt und doch klar und sonnig, dass ich vor dem Besuch einen Spaziergang auf alten, mir vertrauten Wegen meiner Kindheit gemacht habe. Fast täglich waren wir hier unterwegs. Als Kinder mit unserer Oma, später alleine mit dem Rad oder zu Fuß, eigentlich waren wir immer irgendwie draußen. Und während ich den alten Weg zum Wald hochgelaufen bin, habe ich schon ein leises Ziehen, eine Sehnsucht nach diesem Ort verspürt. Die Luft ist eine andere als in der Stadt, die Weite für das Auge sowieso, es ist ruhiger, friedlicher, das hektische Treiben, das ich aus der Stadt kenne, gibt es hier nicht oder zumindest seltener. Trotzdem hat mich in all den Jahren, die ich jetzt nicht mehr hier wohne, auch nichts mehr hierher zurückgezogen. 

 


Während ich meinen Blick so über die Felder schweifen ließ, habe ich mich gedanklich zurückversetzt in das Dorf meiner Kindheit. Es war ein richtiges Dorf mit vielen landwirtschaftlichen Betrieben. Wie viele es waren, das weiß ich nicht mehr, aber es waren etliche. Die vielen Traktoren, die früh am Morgen auf die Felder fuhren und am Abend pünktlich zum Abendläuten wieder zurück, die sind mir noch gut in Erinnerung. Das Abendläuten war auch für uns meistens die Zeit, zu der wir nach Hause laufen mussten und manchmal durften wir auf einem der leeren Traktoranhänger mitfahren. 

Heute gibt es meines Wissens nur noch einen einzigen betriebenen Bauernhof in meinem Heimatdorf. Und noch so manches andere ist verschwunden.
Als ich Kind war, konnte man in diesem Dorf noch einkaufen. Es gab in Fußweite wirklich alles, was man zum Leben brauchte. So oft bin ich mit einem Einkaufszettel losgezogen. Es gab zwei kleine Edeka-Märkte und einen Konsum. Es gab zwei Metzger und zwei Bäcker. Es gab einen kleinen Zeitschriftenladen mit Bonbon-Gläsern wie bei Pippi Langstrumpf. Für Pfennige konnten wir uns dort die kleinen Papiertüten mit allerlei Süßem füllen lassen und mein Opa hat dort immer seine dicken sauren Zitronendrops gekauft. Es gab einen Schuhladen und einen Schuster, zu dem man auch kaputte Schuhe bringen konnte. Es gab einen Laden für Kurzwaren, der so winzig war, dass man kaum mit zwei Kunden gleichzeitig darin stehen konnte. Aber dieses Lädchen hatte alles - von der Nähnadel bis zur Tintenpatrone. Und alles konnte man auch einzeln erwerben.
Es gab einen Milchladen für den Milch- und Käsebedarf. Einen Raiffeisenladen für Saatgut, Tierfutter und allerhand Baumaterialien. Es gab einen Elektroladen, in dem meine Eltern alles vom Fernseher bis zur Waschmaschine erstanden, und es gab einen kleinen Haushaltswarenladen, in dem ich oft mein Taschengeld für eine Kuchenplatte oder eine Vase als Geschenk für Mama oder Oma ließ. Es gab im Dort zwei oder drei Gaststätten, eine mit Hotel und Kegelbahn. Unsere Kartoffeln wurden einmal im Jahr vom Bauern gebracht und eingekellert, unsere Milch und auch unsere Eier holten wir frisch beim Bauern um die Ecke.
Es gab einen Gärtner für Gemüse, für Pflanzen und auch Blumensträuße, gleichzeitig wurden hier auch Hochzeitsblumen oder Beerdigungskränze bestellt. Es gab einen Schlosser, zuständig für eigentlich alle Zäune im Dorf und einen Schreiner, der auch die Särge zimmerte.

Das alles, wirklich alles ist verschwunden. Heute leben in dem Dorf überwiegend Menschen, die auswärts in den Städten arbeiten. Zum Einkaufen muss man ins Auto steigen und in die nächste Kleinstadt fahren Hier befinden sich die üblichen Einkaufsstraßen mit Aldi, Rossman, Tegut, Lidl, Rewe und wie sie sonst alle heißen. Mit riesigen Parkpätzen und selbst für Städter kaum mehr zu Fuß zu erreichen. Der gemütliche Einkauf, der "Schnack" an der Theke oder auf der Straße, die Begegnungen mit Menschen, die man oft schon sein Leben lang kennt, all das ist verschwunden. 

Auch meine Eltern müssen, wenn sie einkaufen wollen, ins Auto steigen und in die Nachbarstadt fahren. Mit weit über 80 Jahren sollten sie das eigentlich nicht mehr tun, aber ohne Auto wären sie in ihrem Heimatdorf vollkommen von allen Einkaufsmöglichkeiten abgeschnitten. Es gibt sie schlicht nicht mehr.

Und das ist einer der Hauptgründe, warum ich  nicht zurück in meine Heimat gezogen bin. Ich wollte, dass meine Kinder ihre Freunde und vor allem auch ihre Vereine zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen können. Ich wollte, dass wir nicht erst in eine andere Stadt fahren müssen, um für das Wochenende Brötchen zu kaufen. Ich selbst bin in der Stadt fast nur zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs. Aber auch hier sterben die kleinen feinen Begegnungsstätten immer mehr aus. Auch hier gibt es den kleinen Laden an der Ecke, in den ich meine Tochter schon als Vierjährige zu Fuß zum Einkaufen schicken konnte, inzwischen nicht mehr. Auch hier wurden das Kiosk, die Bäckerei, der kleine Zooladen, die kleine Filiale der Sparkasse um die Ecke inzwischen geschlossen. Auch hier braucht man inzwischen ein Auto, um auf den großen Einkaufsparkplatz zu fahren. Auch hier können ältere Menschen nicht mehr zu Fuß mit ihrem Trolli zum Lädchen gehen, auch hier sind sie inzwischen aufs Einkaufszentrum draußen weit weg von ihren Wohnungen angewiesen. 

Dann frage ich mich, wer zur Hölle das eigentlich gut findet, wenn all die kleinen sozialen Begegnungsstätten verschwinden? Und manchmal träume ich davon, zurück in mein Heimatdorf zu ziehen und dort einen kleinen feinen Laden zu eröffnen. Einen Laden, in dem Kinder noch einzelne Lakritzschnecken oder Brausebonbons kaufen können und Erwachsene ein Stück Seife oder eine Tüte Vogelfutter. Oder eben auch einfach nur mal auf ein Gespräch vorbeikommen. 

 




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