Die IGLU-Studie - wo bleibt der Aufschrei?


 

Am 16. Mai 2023 wurde sie veröffentlicht. Die IGLU-Studie aus dem Jahr 2021. Spätestens seit einem Jahr also wissen wir:
Jedes 4. Kind in Deutschland kann nach Abschluss der 4. Klasse nicht richtig lesen. Tendenz? Es wird schlechter, nicht besser.

Was aber besagt diese Studie genau? Was heißt dieses "nicht richtig lesen können" überhaupt.

Die IGLU-Studie spricht hier nicht einfach nur von Kindern, die ab und zu über ein Wort stolpern, oder ein bisschen holprig lesen. Es geht um Kinder, die am Ende der vierten Klasse, also mit dem Eintritt in die Sekundarstufe, immer noch Probleme mit einzelnen Buchstaben haben und sich mit dem Entziffern ganzer Wörter oder gar Sätze so schwer tun, dass sie kaum in der Lage sind, sinnerfassend zu lesen. Und das betraf laut der Studie jedes vierte Kind mit Abschluss der Gundschule. JEDES VIERTE. In meinen Augen eine Katastrophe.

Als Teilzeitbuchhändlerin begegne ich immer öfter Eltern oder Großeltern, die mich nach Lektüre für Kinder fragen, die schlecht lesen können. Der Standardsatz lautet meistens: Ich suche etwas für mein Kind/Enkel, er/sie ist jetzt 10 aber die Bücher für Zehnjährige sind ihm/ihr noch viel zu schwer und die für Jüngere sind ihm/ihr zu langweilig. Und wie gesagt: diese Anfrage häufen sich. Oft wird hier die Schuld den Kindern zu geschoben. "Immer am Handy." "Zu viel Internet." .. aber ich finde, damit machen wir Erwachsenen es uns viel zu einfach. Auch Kinder, die gerne und viel lesen, sind heutzutage mit Smartphone und Internetzugang unterwegs. Und lesen trotzdem. Verschlingen ganze Reihen, so dsas die Autor:innen mit dem Schreiben oft kaum hinterherkommen. Und trotzdem gibt es eben auch immer mehr leseschwache Kinder. Und denen sind tatsächlich die für ihre Lesekompetenz geeigneten Bücher oft zu langweilig.

Zum Glück haben Verlage dieses Dilemma bereits erkannt und bemühen sich inzwischen, auch spannende Bücher im Lesestarter-Bereich anzubieten. Zwei Beispiele: So gibt es im Beltz-Verlag in der Reihe "super lesbar" jede Menge tolle und leseleichte Bücher für Kinder ab 9 Jahre und auch für Jugendliche. Es lohnt sich, hier mal durch das Programm zu blättern. 

Für einen anderen Weg hat sich der Arena-Verlag entschieden, der inzwischen seine Bestseller im Kinderbuch (z.B. Woodwalkers) in einfacher Sprache anbietet, damit auch die Kinder, die den  ursprünglich viel umfangreicheren Roman noch nicht schaffen, ihn lesen und am Ende mitreden können. Eine tolle Idee, wie ich finde!

Aber: das alles hilft natürlich Kindern mit Leseschwäche, überhaupt erst einmal ans Lesen zu kommen, keine Frage. Es ändert aber nichts an dem Kernproblem, nämlich dass viel zu viele Kinder nach Abschluss der Grundschule nicht richtig lesen können. Woran liegt das? Zunächst einmal wurde auf Corona verwiesen. Corona mag mit ein Grund dafür sein, aber Corona und damit Unterrichtsausfälle, gab es in anderen Ländern auch. Die zunehmende Mehrsprachigkeit in Grundschulen durch mehr Kinder mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung mag auch zu diesem Ergebnis beitragen, aber auch das gibt es durchaus in anderen Ländern dieser Studie.

Deutschland belegt hier übrigens einen der mittleren Plätze und das war auch vor Corona und 2015 (Flüchtlingswelle) schon so. Schülerinnen und Schüler aus 18 Staaten und Regionen (darunter Spitzenreiter Singapur, Hongkong, England, Schweden, Australien, Österreich und die Slowakei) schnitten beim Leseverständnis besser ab.

Was läuft also schief bei uns? Wo können wir ansetzen? Und warum geht nicht ein Aufschrei durchs Land?

Wenn ich mich mit Eltern oder Großeltern unterhalte, merke ich, dass ein ganz wichtiger Faktor des Lesenlernens gerne übersehen wird. Klar ist es schön, wenn unsere Kinder gerne lesen. Und klar wäre es schön, sie würden sich für Bücher und Geschichten begeistern. Aber darum alleine geht es ja gar nicht. 

Wir lernen lesen, um lesend zu lernen! Wer lesen kann, lernt täglich dazu. Auch wenn er später vielleicht nie zu "Literatur" greift. Das fängt schon in der Schule an: wer lesen kann und vor allem sinnerfassend und schnell lesen kann, hat erhebliche Vorteile in den höheren Klassen, wenn es darum geht, Klausuraufgaben zu lesen oder Textaufgaben zu verstehen. Aber auch im Alltag als Erwachsene brauchen wir die Lesekompetenz an allen Ecken und Enden. Fahrpläne entziffern, Führerschein-Fragebögen lernen, Verträge lesen, das Kleingedruckte verstehen, Fake-News mit wahren Nachrichten vergleichen und entsprechend erkennen, mehr als die Großbuchstaben der BILD-Zeitung entziffern, Beipackzettel in Medikamentenpackungen lesen, vor allem aber sich weiterbilden zu können, zu lernen.

Ohne Lesekompetenz hat man kaum eine Berufsauswahl oder scheitert dann spätestens in der Berufsschule. Und vor allem: Unsere Demokratie braucht lesemündige kompetente Bürger. So dringend.

Was können wir tun? Es gibt den Bundesverband für Leseförderung, der sich genau das, die Leseförderung, auf die Fahne geschrieben hat und dringend Unterstüzung braucht. Hier ist der Link.

Es sind aber nicht nur Verbände und freiwillige Vorlesepaten gefordert, ich fordere auch, dass die Verantwortlichen in den Ministerien endlich reagieren. Meine Kollegin Kirsten Boie hat hierzu eine Petition an das Bundesministierium für Bildung und Forschung gestartet. Ihre "Hamburger Erklärung" verweist ebenfalls auf die IGLU-Studie und darauf, dass 16 Länder in dieser Erhebung noch vor Deutschland liegen. 

Wir Kinderbuchautor:innen können spannende Bücher schreiben. Die Kinderbuchverlage können für leseleichte spannende Bücher sorgen.

Eltern, Großeltern und Vorlesepat:innen können vorlesen, so oft und so viel es nur geht. 

Aber es ist Aufgabe der Grundschulen, dafür zu sorgen, dass kein Kind mehr die Grundschule verlässt, ohne richtig gut lesen zu können. Und es ist Aufgabe der Kultusministerien, dafür zu sorgen, dass die entsprechenden Ressourcen und Kapazitäten in Kindergärten und Grundschulen hierfür zur Verfügung stehen. Deutschland wendet im nternationalen Vergleich aktuell deutlich weniger Zeit für Leseunterricht auf als z.B. England. Das zu ändern, kann doch nicht so schwer sein.

Wir Kinderbuchautor:innen bieten Lesungen an, besuchen Grundschulen, um Kindern den Zugang zu unsren Büchern zu öffnen, um sie für das Lesen zu begeistern. 

Und eins kann ich bestätigen:

Laut der IGLU Studie haben Kinder durchaus Lust zu lernen und auch zu lesen. Die mit der Studie befassten Kinder gaben an, gerne in die Schule zu gehen und gerne zu lernen. Und wenn ich im Buchladen einmal wieder Besuch von einer Schulklasse erhalte, kann ich rund 30 Kinder dabei beobachten, die sich mit Begeisterung und sehr viel Neugier auf die Bücherregale stürzen. Erschreckend ist immer, dass viele von ihnen vorher noch nie in einer Buchhandlung oder in einer Bibliothek waren. Auch das müssen und können wir ändern. 

Aber am allerwichtigsten scheint es mir, dass wir im Unterricht selbst mehr dafür tun, dass Kinder lesen lernen. Unser hierzu brauchen wir ausreichend Lehrerinnen und Lehrer, vor allem an Schulen mit bildungsfernen Kindern, aber auch Schulbibliotheken, Fördermittel für Lesungen und Kreative Schreibkurse, Bücher, die Spaß machen und spannend sind und vor allem die kostbarste Ressource: genug Zeit für jedes Kind.


 


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