Leseförderung durch Vorlesen

 

Beim Aufräumen alter Fotos habe ich kürzlich ein Bild gefunden, das mich mit meinen drei jüngsten Söhnen bei einem typischen Vorlesenachmittag auf dem Sofa zeigt. Ich habe das Bild auf Instagram hochgeladen mit dem Hinweis, dass die Jungs auf dem Foto inzwischen 18, 20 und 22 Jahre alt sind. Und natürlich bin auch ich in der Zwischenzeit ergraut. Aber eins hat sich nicht geändert in all der Zeit: 

Meine feste Überzeungung, dass Vorlesen mit das Beste ist, was wir für unsere Kinder tun können. Ich habe viel und oft vorgelesen und das auch noch, als meine Kinder schon längst selbst lesen konnten. 

Inzwischen hat es sich ganz sicher herumgesprochen, dass Vorlesen weit mehr ist, als nur ein schönes Ritual in Kleinkindertagen vor dem Schlafengehen. Während einer Geschichte müssen Kinder zuhören, sich auf den Inhalt konzentrieren und ihre Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum hinweg halten. Dies fördert die Geduld und Ausdauer, wichtige Fähigkeiten, die auch im späteren Leben von Nutzen sind.

In Erwachsenenkreisen wird oft bemängelt, dass Kinder keine Ausdauer mehr hätten, dass ihre Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer werde. Ich bin keine Pädagogin, ich kann nicht wirklich beurteilen, ob das so stimmt. Fakt ist, dass die Welt unserer Kinder sehr viel voller und schneller geworden ist, als es meine eigene Kinderwelt war. Vielleicht fällt es den Kindern dadurch schwerer, sich länger auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren, allerdings sind sie stattdessen heute in der Lage, sich fast multitaskingfähig auf mehrere Sachen gleichzeitig zu konzentrieren. Spiel einmal mit einem Kind Memory, das ein Smartphone in der Hand hat und nebenbei dauernd auf dem Phone herumtippt. Ich wette, du wirst trotzdem beim Memoy verlieren. Das ist übrigens keinesfalls ein Plädoyer für Smartphones in Kinderhänden. Ich will damit nur sagen, dass wir den Kindern Unrecht tun, wenn wir sie für weniger konzentrationsfähig halten. Und wer einmal beobachtet hat. wie ein Kind sich in einem Onlinespiel wieder und wieder durch das gleiche Level kämpft, wird auch nicht mehr an der Geduld unserer Kinder zweifeln. 

Daraus zu schlussfolgern, dass Vorlesen für Kinder also langweilig und deshalb überflüssig ist, wäre aber fatal. Wir vielbeschäftigten Erwachsenen mit unserer permanenten Erreichbarkeit, all unseren Aktivitäten auf Socialmedia, in irgendwelchen WhatsApp- oder anderen Chatgruppen, unseren Jobs, die uns inzwischen bis ins Home Office verfolgen, wir wissen doch, wie wichtig es ab und zu ist, uns aus allem auszuklinken, den inneren Rechner runterzufahren (den äußeren sowieso) und zur Ruhe zu kommen. Und genau das können wir unseren Kindern in ihrer zunehmend hektischen Welt durch das gemeinsame Vorlesen bieten.

Vorlesen schafft eine besondere emotionale Verbindung zwischen Eltern und Kindern. Es ist eine Zeit des gemeinsamen Erlebens und der Nähe. Geschichten verbinden. Nicht umsonst ist die Kunst des Geschichtenerzählens, in vielen Kulturen auch unter Erwachsenen noch fest verankert. Wie stark so eine emotionale Verbindung zwischen dem Vorlesenden/Erzählenden und seinen Zuhörern sein kann, erlebe ich als Kinderbuchautorin immer wieder in meinen Lesungen. Wenn ich es schaffe (und ich bin weder besonders ausgebildet noch halte ich mich für besonders begabt in dieser Hinsicht), dass 60 Kinder gebannt an meinen Lippen hängen, um zu erfahren, wie die Geschichte, die ich ihnen vorlese, weitergeht, wie sie bei lustigen Stellen lachen und bei spannenden Momenten die Luft anhalten, dann zeigt das doch, wie wertvoll solche Vorlesestunden sind und wie sehr auch heute noch Kinder fähig sind, ihnen zu folgen. 

Neben den neuen Welten, die Kindern durch das Vorlesen eröffnet werden und neuen Perspektiven, die sie dadurch erhalten, hat regelmäßiges Vorlesen noch einen ganz anderen, oft übersehenen Effekt:

Die Kinder entwickeln frühzeitig ein besseres Sprachverständnis und einen erweiterten Wortschatz. Sie kommen mit einer Vielzahl von Wörtern in Berührung, die in unserer Alltagssprache eher selten vorkommen. Dadurch werden ganz automatisch auch Satzstrukturen und sogar korrekte Grammatik erlernt. Spielerisch und fast wie von selbst.

Trotzdem klagen mir vor allem in meiner Eigenschaft als Buchhändlerin viele Eltern ihr Leid. Trotzdem sie ihrem Kind im Kleinkindalter immer und viel vorgelesen haben, will es jetzt im Schulalter nicht so wirklich zum Leser werden.
"Mein Kind liest nicht gerne, welches Buch können Sie mir empfehlen?", ist im Kinderbuchbereich bei uns im Buchladen eine der am häufigst gestellten Fragen. Meistens taste ich mich dann ein wenig heran. Frage nach dem Alter des Kindes, nach seiner generellen Lesefähigkeit, frage nach der bisherigen Lektüre usw. Gründe, warum ein Kind keinen Spaß am Lesen hat, können so vielfältig sein, dass es zu weit führen würde, sie alle in diesem Blogpost zu erfassen.

Was ich aber Eltern und Großeltern und auch Lehrer:innen immer wieder rate: Lest vor! Ja, auch in der Schule. Ich kenne Lehrer:innen, die in ihren Schulstunden ganz regelmäßige Vorlesestunden einbauen und den Kindern Kapitel für Kapitel "Die unendliche Geschichte" oder auch "Harry Potter" vorlesen. Und ihnen damit den Zugang zu den Welten zwischen den Buchstaben ermöglichen, die ihnen sonst vielleicht verschlossen blieben.
Und was ich den oft leicht verzweifelten Eltern auch noch als Trostpflaster mit auf den Weg gebe:

Keines der drei Kinder oben auf dem Foto hat in seiner Schulzeit gerne gelesen. Und das im Haus einer Kinderbuchautorin und Buchhändlerin mit Regalen voller spannender Bücher! Vorlesen war immer okay und wurde begeistert angenommen. Auf langen Autofahrten haben wir deshalb auch immer spannende Hörbücher gehört. Selbst lesen war nicht so wirklich ihr Ding und wurde immer auf das für die Schule Notwendigste beschränkt. Aber: Heute - als junge Erwachsene - lesen sie alle. Auf ihren Nachttischen türmen sich sämtliche Fantasyschmöker neben Stephen King oder Sebastian Fitzek. Warum ich das erzähle? Weil ich glaube, dass noch nicht alles verloren ist :-) 

Übrigens: auch ich lasse mir immer noch gerne vorlesen. Neben meinen Bücherstapeln überall im Haus habe ich deshalb auch immer ein Hörbuch auf den Ohren. 


 


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