Offener Brief an Friedrich Merz

© Steve Bidmead

 

Sehr geehrter Herr Merz,

ich habe heute gelesen, dass Sie im Rahmen des NRW-Parteitages der CDU unseren Wirtschaftsminister Herrn Robert Habeck als "Kinderbuchautor" tituliert haben. Ich vermute, dass dieser Ausspruch von Ihnen nicht als Bewunderung, sondern als eine merkwürdige Art von Beleidigung gedacht war. Eine Beleidigung, Herr Merz, mit der Sie nicht nur Herrn Habeck, sondern tatsächlich einen ganzen Berufsstand sowie einen nicht unerheblichen Teil der Verlagswelt unseres Landes verunglimpft haben.

Denn was wollen Sie denn wirklich damit sagen, wenn Sie den Stellvertreter des Bundeskanzlers als Kinderbuchautor diffamieren? Welche Kompetenzen sprechen Sie ihm und damit uns, sämtlichen Kinderbuchautor:innen, denn ab?  Und was sagt Ihr Verständnis über diesen Beruf eigentlich über Sie und Ihre eigenen Kompetenzen aus?

Der Beruf des Kinderbuchautors / der Kinderbuchautorin ist ein einzigartiger und ein herausfordernder Beruf. Er vereint Kreativität mit Verantwortung und Herzblut. Es ist ein Beruf, der die Fantasie nährt, Kindern dabei hilft, über den Tellerrand zu blicken, ihnen so wertvolle Eigenschaften wie Vielfalt und Offenheit näherzubringen, ihnen ein demokratisches Miteinander vermittelt und den Grundstein für eine positive Entwicklung legt. Wer Kinderbücher schreibt, hilft dabei, eine bessere Welt zu gestalten – eine Welt, in der Mitgefühl, Neugier und Mut zählen.

Vielleicht durften Sie in Ihrer Kindheit keine Kinderbücher lesen? Das wäre eine Erklärung für Ihre Sicht auf unseren Beruf. Vielleicht durften Sie nie mit Pippi Langstrumpf "nicht den Fußboden berühren" oder mit Peter Pan durch Nimmerland fliegen? Vielleicht haben Sie nie mit Dr. Doolittle mit den Tieren gesprochen oder mit Ronja Räubertochter gelernt, sich nicht vor dem Donnerdrummel zu fürchten? Vermutlich waren Sie nie in Narnia bei Aslan, dem König oder mit Alice im Wunderland unterwegs? Anders kann ich mir Ihre Einstellung gegenüber Kinderbuchautor:innen nämlich gar nicht erklären. Und dann tun Sie mir eigentlich nur noch unendlich leid.
Wenn ich an meine Kindheit denke, erinnere ich mich oft an Geschichten, die mich begleitet haben. Diese Geschichten haben meine Fantasie beflügelt, mich zum Lachen gebracht oder zum Nachdenken angeregt. Und auch wenn ich als Kind ihre Namen vielleicht nicht kannte, waren Astrid Lindgren, Erich Kästner, Michael Ende oder später auch Paul Maar und Cornelia Funke und viele andere die Menschen, die mir , meinen eigenen Kindern und Millionen anderer Kinder die Türen zu ganz neuen Welten aufgestoßen haben, Welten, die es ermöglichen, für einen Moment zu träumen, Abenteuer zu erleben und Held:innen zu begegnen, mit denen man sich identifizieren kann.. Kinderbuchautor:innen sind diejenigen, die diese Magie beherrschen.

Ich für meinen Teil bin stolz darauf, Kinderbuchautorin zu sein und vielleicht einen kleinen Teil dazu beizutragen, dass Kinder gerne lesen, denn das wissen wir doch inzwischen alle - Pisa sei Dank - Kinder, die gerne lesen, haben bessere Chancen, sich geistig und emotional zu entwickeln. Kinderbuchautor:innen legen also die Grundlage für lebenslange Freude am Lernen und Entdecken.

Wenn Sie nun den Beruf des Kinderbuchautors in Form einer Beleidigung verwenden, impliziert das für mich nur eins: Kinder sind Ihnen gleichgültig. Wäre es nicht so, lägen Ihnen ja gerade die Kinderbuchautor:innen und damit die ganze Kinderbuchbranche ganz besonders am Herzen. Denn Kinder  sind die Zukunft unserer Gesellschaft. Ihre Weltanschauungen, ihre Werte und ihr Verständnis von Gut und Böse, von Zusammenhalt und Gerechtigkeit, werden von den Geschichten geformt, die sie hören und lesen. Bücher bieten nicht nur Unterhaltung, sondern auch Lektionen fürs Leben. Sie lehren Empathie, Respekt und Verständnis für andere. Wir Kinderbuchautor:innen wissen das. Und unsere Verlage und all ihre Mitarbeiter:innen, die sich Tag für Tag mit all ihrer Energie fürs Kinderbuch einsetzen, sowieso. Nicht zu vergessen all die Verbände, angefangen beim Arbeitskreis für Jugendliteratur über den Friedrich-Bödecker-Kreis bis zum Bundesverband für Leseförderung. An allen Ecken und Enden dieses Landes setzen sich Freiwillige und Ehrenamtliche  gemeinsam mit Autor:innen und Verlagen für das Kinderbuch und damit die Leseförderung unserer Kinder ein.

In einer Welt, die immer komplexer wird, sind Kinderbücher oft das erste Werkzeug, mit dem ein Kind lernt, die Welt um sich herum zu verstehen. Ob es nun darum geht, mit schwierigen Gefühlen umzugehen, Freundschaften zu schließen oder neue Kulturen zu entdecken – Bücher bereiten Kinder auf das Leben vor. Wir Kinderbuchautor:innen wissen um unsere Verantwortung, denn die Geschichten, die wir schreiben, haben die Kraft, kleine Menschen ganz groß zu machen.

Kinderbuchautor:innen sind nicht nur Geschichtenerzähler:innen, sie sind Mentor:innen und Vorbilder. Ihre Worte inspirieren Generationen, beeinflussen die Sichtweise auf die Welt und helfen Kindern, ihre eigene Identität zu formen. Sie öffnen Türen zu neuen Ideen, fördern das Selbstvertrauen und ermutigen die Kinder, eigene Träume zu verfolgen. Und irgendwann werden sie dann vielleicht selbst einmal Kinderbuchautor oder - autorin. Oder Vizekanzler:in. Oder beides. Und sind stolz darauf.

Mit freundlichen Grüßen

                                    Eine Kinderbuchautorin 

 



 

 

 

 


Kommentare

  1. danke für diese eindrückliche antwort auf eine total unangemessene äusserung, ich werde sie im kopf behalten und gelegentlich weitergeben. herzlichen gruß, roswitha

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