Jedes Kind muss lesen lernen und nicht nur jedes Kind

 


Als Kinderbuchautorin möchte ich natürlich, dass Kinder gerne und viel lesen. Als Buchhändlerin in einer Kinderbuchabteilung wünsche ich mir das ebenfalls. Und die Forderung der Hamburger Kinderbuchautorin und Kollegin Kirsten Boie, als sog. Hamburger Erklärung veröffentlicht, "Jedes Kind muss lesen lernen" hängt groß an meiner Pinnwand.

Ich kenne die Studien. Ich weiß, dass die Lesekompetenz unserer Kinder immer schlechter wird. Ich weiß, dass die Aufmerksamkeitsspanne unserer Kinder immer kürzer wird. Ich weiß auch, dass immer mehr Kinder mit Abschluss der vierten Klasse, also mit Abschluss der Grundschule, nicht sinnentnehmend lesen können. Wer sich mit den Zahlen beschäftigt, ist alarmiert. Und ich kenne auch einen Großteil der Gründe, die für diese Entwicklung mit verantwortlich gemacht werden. Sprachbarrieren, digitale Ablenkungen, Überforderung der Eltern, zu große Schulklassen etc. Ich werde jetzt hier nicht alle aufführen, wir kennen sie. Trotzdem zerbreche ich mir immer wieder den Kopf, woran könnte es noch liegen, dass Lesen für Kinder so unattraktiv geworden ist? Sicher tragen die Schnelllebigkeit unserer heutigen Zeit, das Zurverfügungstehen tausender Ablenkungen ihren Teil dazu bei, aber das kann es nicht alleine sein. Und mir ist etwas aufgefallen. Etwas, das ich neuerdings jeden Erwachsenen (meist die Eltern oder Großeltern) frage, wenn sie im Buchladen um Rat und Tipps und Hilfe bitten, weil das Kind so schlecht liest oder so gar keinen Spaß am Lesen hat.

Natürlich habe ich als Buchhänderin gleich einige witzige und spannende Bücher zur Hand, die es schaffen könnten, das Kind doch noch zu überzeugen. Natürlich bemühe ich mich als Kinderbuchautorin, genau solche Bücher zu schreiben. Und nochmal natürlich kenne ich auch zahlreiche Kolleginnen und Kollegen, denen das bestens gelingt. Und wenn die Eltern oder andere Weggefährten des Kindes schon bei uns im Laden stehen und um Hilfe bitten, dann ist dieses Kind an einer Zukunft als Leserin/als Leser so viel näher dran als viele andere Kinder seines Alters. Und trotzdem: Zugang zu kindgerechter Literatur, Bücher in der eigenen Muttersprache, regelmäßiges Vorlesen durch Erwachsene, passendes Bücher für jedes Alter zu jedem Thema .. manchmal hilft selbst das alles nicht. 

Und in diesem Fall stelle ich neuerdings diese eine Frage, die mir kürzlich erst so sehr die Augen geöffnet hat. Und zwar dann, als ich selbst über mein Leseverhalten als Kind nachgedacht habe und darüber, ob es tatsächlich nur die fehlenden Fernsehprogramme und Computerspiele waren, die mich schon als Kind zur Bücherfresserin gemacht haben. Und bin dabei auf etwas ganz anderes gestoßen.

Bei uns zu Hause wurde gelesen. Meine Eltern haben als beruflich Selbstständige in ihrem Leben extrem viel gearbeitet. Aber wenn sie einmal nicht gearbeitet haben, dann haben sie meistens ... gelesen. Vor allem im Urlaub. Ja, wir waren wie andere auch am Meer, sind geschwommen, Schlauchboot gefahren, haben versucht zu angeln oder haben im Sand Boccia oder Federball gespielt. Aber meistens haben meine Eltern ... gelesen. Die Taschenbücher stapelten sich neben den Liegestühlen und sie sind stundenlang in den Büchern versunken. Und ließen sich nur ungern dabei stören. Auch meine Schwester und ich haben schon als Kinder neben den Eltern auf der Stranddecke gelegen und gelesen. Und wenn unsere Lektüre durch war und es weit und breit keine deutschen Bücher zum Nachkaufen gab, dann mussten es eben die zerfledderten Konsalik meiner Eltern sein. Sicher nicht immer kindgerecht, aber bestens geeignet, um wenigstens im Kopf in andere Welten abzutauchen. Und Kenntnisse über den zweiten Weltkrieg, chirurgische Eingriffe und sexuelle Aufklärung erwarben wir ganz nebenbei. 

Aber darum geht es mir heute gar nicht. Nicht um kindgerechte Texte oder um zu viel "Krieg und Frieden" im Buch und zu viel nackte Haut. Mir geht es um dieses Bild, das ich plötzlich vor Augen hatte. Zwei Erwachsene, deren Hauptbschäftigun in der Freizeit daraus bestand, die Nase in ein  Buch zu stecken.

Und deshalb frage ich neuerdings die Erwachsenen, die im Laden stehen und gar nicht wissen, warum ihr Junior so gar nicht ans Buch ran will: Erlebt ihr Kind Sie eigentlich lesend?

Viele nicken dann und bestätigen mir, wie viele Jahre sie dem Kind vorgelesen haben, wieviele Kinderbücher sie ihm gekauft haben, wie oft sie mit ihm lesen üben. Aber das hinterfrage ich ja gar nicht. Meine Frage ist eine andere und doch ganz einfach: Erlebt das entsprechende Kind die Erwachsenen in seiner Welt noch lesend? Sieht es noch Erwachsene, die kaum ansprechbar sind, weil sie mit ihrem Kopf gerade tief in einer Geschichte stecken? Erlebt es noch Erwachsene, die ein Buch kaum oder nur ungern aus der Hand legen können und evtl. sogar mit aufs Klo nehmen? Die in Zug oder Bus sofort das Buch auspacken und fast das Aussteigen verpassen, weil das Buch gerade so spannend ist?

Wenn das nicht so ist - und ich behaupte mal, dass das in den meisten Familien nicht mehr so ist - warum wundern wir uns dann, wenn Kinder nicht mehr neugierig auf das Medium Buch werden? Warum wundern wir uns, dass Kinder nicht automatisch auch zu Büchern greifen, weil von ihnen doch etwas Magisches ausgehen muss, wenn Mama und Papa ... 

Vielleicht ist das mit der Leseförderung ganz einfach. Vielleicht sollten wir aufhören, an den unwilligen Kleinen herumzuzerren. Vielleicht sollten wir uns erst einmal an die eigene Nase fassen und selbst mal wieder in einem Buch so richtig abtauchen, uns mal wieder so richtig fesseln lassen, so dass wir uns am liebsten krankmelden würden, damit wir das Buch nicht zur Seite legen müssen. Vielleicht sollten wir die Erwachsenen wieder zu Lesenden machen, zu Menschen, die Lesen sehr viel attraktiver finden, als stundenlang mit den Fingern übers Handy zu wischen. Und ganz vielleicht sollten wir dann sogar den "spicy BookTok-Büchern" dankbar sein, dass sie eine neue Generation süchtiger Lesender hervorgebracht haben. Über Inhalte lässt sich wunderbar streiten. Über die Faszination, die eine Geschichte auf uns ausüben kann, eher nicht. Und wenn die nächste Generation Erwachsener es schafft, diese Faszination ihren Kindern wieder vorzuleben, dann dürfen ihre Bücher auch gerne vollkommen abgefahrene Farbschnitte haben, wenn sie es schaffen, aus zukünftigen Eltern begeisterte Lesende zu machen. Und damit Kinder wieder neugierig machen auf das auf das bunte Ding mit den vielen Seiten aus Papier. Eigentlich ganz einfach oder?


 

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